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Auswirkungen der frühen Lebensjahre auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter

Arbeit mit Entwicklungstrauma – neue therapeutische Wege

Ausblick
Kapitel 1 – Was ist ein Entwicklungstrauma?
Kapitel 2 – Auswirkungen von Entwicklungstrauma
Kapitel 3 – Die „gesunde“ Entwicklung
Kapitel 4 – Entwicklungstrauma sind in Denken, Körper und Emotionen gespeichert
Kapitel 5 – Was kann die Bearbeitung von Entwicklungstrauma bewirken?
Kapitel 6 – Therapeutisches Vorgehen bei Entwicklungstrauma
Kapitel 7 – Entwicklungstrauma heilen: was ist hierbei wichtig?
Fazit

Ausblick 

Hier erfahren Sie, was ein Entwicklungstrauma ist und welche Auswirkungen diese Form von Trauma hat. Außerdem erfahren Sie, wie man therapeutisch erfolgreich mit Entwicklungstrauma arbeiten kann und welche positiven Auswirkungen diese Therapie haben kann.  

Was ist ein Entwicklungstrauma?

Erfahrungen in den frühen Lebensphasen eines Menschen prägen dessen Selbstbild, Selbstwertgefühl, seine Lebensfreude und seine Lebensenergie bis in das Erwachsenenalter. Wenn diese Prägungen negative Auswirkungen haben, spricht man von Entwicklungstrauma. Anzeichen für diese Form des Traumas sind z.B. geringes Selbstwertgefühl, Aggressionen, Stress durch hohe Erwartungen an sich selbst, nicht adäquate Scham- und Schuldgefühle, Beziehungsprobleme, Depressionen, Ängste und viele weitere.

Ursachen für Entwicklungstrauma müssen nicht zwangsläufig schwerwiegende Ereignisse gewesen sein. Auch zumindest aus der Sicht des Erwachsenen weniger bedeutende Ereignisse können zu dieser Form des Traumas führen, besonders wenn das Kind diese Erfahrungen regelmäßig gemacht hat.

Ein Beispiel mag das verdeutlichen: wenn ein Paar ein zweites Kind bekommt und die Geburt dieses Kindes in die frühe Entwicklungsphase des ersten Kindes fällt, kann dieses schöne Ereignis Auswirkungen auf das Selbstbild des erstgeborenen Kindes haben wie z.B.: ich muss meine Bedürfnisse zurückstellen, vernünftig sein und für das Wohl der anderen sorgen. Oder aber es kommt zum Vertrauensverlust: bisher war ich die Nummer eins und jetzt wird mir das genommen. Diese inneren Prozesse verlaufen natürlich unbewusst und unreflektiert. So kann also sogar ein schönes Ereignis wie die Geburt eines zweiten Kindes ein Entwicklungstrauma hervorrufen, das sich manifestiert und auch im Erwachsenenalter „wirkt“, z.B. dadurch, dass man sich für das Wohl anderer überfordert, meint sich anstrengen zu müssen um Liebe und Zuneigung zu bekommen oder nicht vertrauen kann und stets die Kontrolle haben will.  

Entscheidender als das Erlebnis selbst ist hierbei die sogenannte Identifizierung, das Selbstbild des Menschen, das auf der Basis dieser frühen Erfahrungen entstanden ist. Dieses Selbstbild ist heute noch wirksam, obwohl die frühen Erlebnisse vielleicht längst vergessen sind.

Auswirkungen von Entwicklungstrauma

Solche Selbstbilder sind z.B.: ich gehöre nicht dazu, ich darf keine Bedürfnisse haben, wenn ich vertraue werde ich enttäuscht, wenn ich so bin wie ich bin werde ich abgelehnt, um geliebt und gemocht zu werden muss ich Leistung erbringen.

Diese sogenannten Identifizierungen führen dazu, dass man sich selbst immer wieder in Frage stellt, nicht zu sich steht, permanent die Kontrolle haben will, sich permanent anstrengt, eine Tendenz zur Selbstüberforderung hat, oder man ist überzeugt davon, nicht wirklich authentisch sein zu dürfen um nicht abgelehnt zu werden. Selbstannahme und Selbstbehauptung fallen schwer, man setzt sich selbst häufig unter Druck und ist leicht emotional verletzbar.

Weitere Auswirkungen im späteren Leben und im Erwachsenenalter sind z.B. Einschränkung von Lebensfreude und Lebensenergie bis hin zur Resignation.

Entwicklungstrauma können also unser heutiges Leben im Erwachsenenalter sehr intensiv prägen. Die frühkindlichen Erlebnisse stellen quasi eine Brille dar, durch die wir uns selbst und die Welt wahrnehmen. Leider noch verbunden mit Scheuklappen, die eine Rundumsicht und die bewusste Wahrnehmung von positiven Erfahrungen oft verhindern. Unsere Selbstwahrnehmung, unsere Vorstellung wie andere zu uns stehen und unser Verhältnis zu anderen Menschen werden durch das Trauma beeinflusst. Wir erschaffen uns quasi unsere eigene Welt und erleben diesen Ausschnitt als Realität. Leider oft als unschöne wenig ermutigende Realität.

Die „gesunde“ Entwicklung

Entwicklungstrauma entstehen in der Zeit vor der Geburt, den folgenden Monaten und 3-4 Lebensjahren. Diese ersten Phasen des Lebens sind sehr entscheidend und beeinflussen spätere Entwicklungsphasen grundlegend. Sie sind also für unsere gesamte Entwicklung bedeutend und prägend. Grundlegende gesunde Erfahrungen, die wir in diesen Phasen machen, sind z.B.: ich habe meinen Platz auf der Welt und bin richtig und OK so wie ich bin. Ich bin willkommen und gehöre dazu. Ich darf Bedürfnisse haben und diese adäquat zum Ausdruck bringen. Ich kann vertrauen. Ich darf authentisch sein und muss nicht andauernd bestrebt sein es richtig zu machen. Ich muss nicht permanent Leistungen erbringen, um geliebt zu werden.

Wenn keine relevanten Entwicklungstraumen entstanden sind, ist das Kind in der folgenden Entwicklungsphase mit hoher Resilienz gegenüber negativen Erfahrungen ausgestattet, negative Ereignisse in den folgenden Lebensphasen beeinträchtigen den heranwachsenden Menschen nicht mehr so gravierend und führen nicht mehr so leicht zu einem negativen Selbstkonzept.  

Entwicklungstrauma sind in Denken, Körper und Emotionen gespeichert

Diese Selbstkonzepte und Selbstbilder sind nicht lediglich auf der gedanklichen Ebene gespeichert, sondern auch im Körper, im Nervensystem und in den Emotionen. Man kann sogar sagen: sie wirken bis in die einzelne Zelle des Menschen. Deshalb scheinen diese Selbstbilder so etwas wie unsere individuelle Persönlichkeit, unser Naturell zu sein. Doch nach heutigem Verständnis sind die negativen Selbstkonzepte lediglich früh entwickelte Lebensstrategien, die sich auf der Basis von ganz besonderen Umwelteinflüssen damals als sinnvoll erwiesen haben. Heute allerdings können wir diese Lebensmuster verändern, wir können andere Sichtweisen und eine große Bandbreite an neuen Verhaltensweisen entwickeln. Vorausgesetzt, wir erkennen die Blockaden, die unserer wahren Natur in die Quere kommen und uns regelrecht von unserem inneren Kern trennen und arbeiten gezielt daran.  

Was kann die Bearbeitung von Entwicklungstrauma bewirken? 

Obwohl die Auswirkungen eines Entwicklungstraumas bis in den Körper und das Nervensystem des Menschen reichen, gibt es therapeutische Wege zur Heilung. Die Bearbeitung des frühen Traumas ist möglich und kann zu nennenswerten Bereicherungen im Leben führen.

An oberster Stelle soll hier die Selbstannahme genannt werden: zu sich selbst stehen, statt sich permanent anzustrengen „passend“ zu sein. Vielleicht das Schönste, das ein Mensch erreichen kann. Daraus entstehen tiefes und echtes Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die eigene Intuition – und das Vertrauen dieser zu folgen. Man könnte auch sagen: es entsteht der Mut, dem eigenen Herzen zu folgen. Ohne allerdings dabei und dadurch den Kontakt und die Verbindung zu anderen Menschen zu verlieren. Dieses „“Ich darf ich sein“, dieses Ja zu sich selbst ist vermutlich eine tiefe Sehnsucht vieler Menschen.

Hierdurch wird der Weg frei zu mehr Lebensfreude, Lebensenergie und Lebendigkeit und zu einer tiefen Verbundenheit mit sich selbst, die keine Abkehr von anderen Menschen ist. Ganz im Gegenteil: es kann eine neue und tiefere Kontakt- und Bindungsfähigkeit entstehen. Die Gratwanderung zwischen einer gesunden Individualität und dem Kontakt zu anderen wird möglich, indem die inneren Blockaden und verzerrten Selbstbilder bearbeitet werden. Durch die Verbundenheit mit sich entsteht eine natürliche authentische Persönlichkeit, die anstrengungsfrei mit anderen Menschen in Kontakt gehen kann.

Auf dieser Basis entsteht gleichzeitig die Fähigkeit zur gesunden Abgrenzung, zum Nein sagen und die Bereitschaft, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Dies ist eine grundlegende Voraussetzung zum gesunden Umgang mit Leistungserwartungen des Umfeldes und damit zur Stressvermeidung – weil der eigene Selbstwert nicht mehr existentiell mit Leistung und Funktionieren verbunden ist. Gleichzeitig kann neue Energie und Tatkraft aktiviert werden. Bisher verdrängte Emotionen werden zu Energiequellen.

Die Therapie von Entwicklungstrauma wirkt sich ebenfalls positiv z.B. auf Depressionen, Aggressionen, nicht adäquate Scham- und Schuldgefühle, Beziehungsprobleme und Bindungsfähigkeit sowie Ängste aus.

Dies sind nur einige Effekte, die durch eine Arbeit mit Entwicklungstrauma entstehen können. Besonders aber zu ergänzen ist noch, dass die inneren Voraussetzungen für ein erfüllendes Leben geschaffen werden können.

Therapeutisches Vorgehen bei Entwicklungstrauma

Entwicklungstrauma entstehen in den Phasen, in denen die Persönlichkeit, der Körper und das gesamte Sein eines Menschen grundlegend geprägt werden. Die weitere Entwicklung geschieht auf der Basis des Lebenskonzepts, das durch das Trauma entstanden ist. Die subjektive „Brille“ ist quasi immer dabei.

Dennoch muss in einer Psychotherapie nicht die gesamte Kindheit aufgearbeitet werden, wie manche befürchten. Das wäre ohnehin schwierig, da unser Gedächtnis in diesen Lebensphasen noch nicht ausgeprägt ist. Die wahren Ursprünge für das Entwicklungstrauma liegen in Lebensphasen, in denen unser Erinnerungsvermögen im Dunkeln tappt und sind somit einer Therapie nur sehr bedingt zugänglich.  

Wie kann also eine Psychotherapie für Trauma, die in dieser Zeit entstanden sind, gelingen?

Aufgrund der zunehmenden Bedeutung, die man Entwicklungstrauma beimisst, sind in den letzten Jahren spezielle Therapiekonzepte zur Behandlung eines solchen Traumas entstanden. Hier soll besonders das von Dr. Laurence Heller entwickelte richtungsweisende Konzept NARM (Neuro-Affektive-Beziehungs-Modell) erwähnt werden, das der oben genannten Herausforderung gerecht wird.

Entwicklungstrauma heilen: was ist hierbei wichtig?

Wie kann ein Trauma, das zumindest häufig der Erinnerung nicht zugänglich ist, geheilt werden?

Hierzu hat sich das phänomenologische Arbeiten bewährt, d.h.: die Arbeit mit dem, was im hier und heute, in aktuellen Situationen oder in der Therapiesitzung selbst sichtbar wird. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die frühen Erfahrungen, sofern sie heute noch wirksam und relevant sind, ohnehin heute im Körper, den Emotionen, dem Denken und Handeln und besonders dem Selbstbild wahrnehmbar sind. Hierzu ist natürlich die Hilfe eines wertschätzenden und achtsamen Therapeuten erforderlich.

Es geht also nicht um die Aufarbeitung der frühen Geschehnisse, weil die Gesamtheit der frühen Erlebnisse in aktuellen Situationen erfahrbar werden – durch das Selbstbild des Klienten. Sein Selbstbild, hat „überlebt“ und wird unbewusst permanent sichtbar. Und um dessen Veränderung geht es. Nicht um die Veränderung der alten Geschichte.  

Wenn sich alte unbewusste Selbstbilder dann langsam auflösen und verändern, erfolgt ein weiterer sehr essentieller Schritt: die Verkörperlichung der neuen konstruktiven Selbstbilder. Es geht also nicht um ein oberflächliches „Umdenken“. Da Entwicklungstrauma nicht nur im Denken, sondern besonders auch im Unterbewussten, im Körper, dem Nervensystem und den Emotionen gespeichert sind, ist es erforderlich, dass alle diese Bereiche bei der therapeutischen Arbeit einbezogen werden. Denn hier erfolgt die eigentliche und tiefgehende Veränderung!

Dem Körper kommt hierbei eine besondere Rolle zu, da hier die neuen Erfahrungen und Sichtweisen ihre Wirkung manifestieren. Nur dann kommt es zu einer von Innen heraus stattfindenden Veränderung. Diese sogenannte Verkörperlichung, die bis in die einzelnen Zellen wirkt, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Therapeuten und führt zu einer nachhaltigen Veränderung, besser: zu einer Auflösung von Blockaden. Das Trauma wird bis in die Körperzellen hinein aufgelöst. Dort gehaltene negative Erfahrungen werden transformiert. Dadurch kommt der Klient zunehmend mehr in Kontakt mit der eigenen Lebensenergie und bringt ihn in den inneren Kern. Dies ist ein grundlegendes Prinzip der Arbeit und führt zu Heilung.   

Bei diesem Prozess kommt ebenfalls den Emotionen eine große Bedeutung zu, es geht in der Therapie um die sogenannte emotionale Vervollständigung. Verdrängte Emotionen werden im Rahmen der Therapie durchgearbeitet und integriert und und steigern z.B. Energie und Selbstbehauptung.   

Neben diesen wichtigsten Säulen der therapeutischen Arbeit lässt sich die von Dr. Heller entwickelte Methode durch einige weitere Merkmale charakterisieren: bedeutend ist auch die Stärkung des Erwachsenen-Modus des Klienten. Die Persönlichkeitsanteile, die viele als das Innere Kind kennen, werden zwar ebenfalls berücksichtigt, die Heilung der emotionalen Verletzungen und des Entwicklungstraumas erfordern aber vor allem ein geerdetes Erwachsenen-Ich. Der Zustand des inneren Kindes ist mit Hilflosigkeit und Überforderung gekoppelt und es kommt leicht zu einer Rückerinnerung im gesamten Körper und Nervensystem an das Trauma – und damit möglicherweise sogar zu einer Festigung des Traumas oder einer Retraumatisierung. Deshalb nutzt der Therapeut vor allem die Neubewertungen der Situation aus der Erwachsenen-Perspektive. Hierdurch erfährt das innere Kind dann Sicherheit und Heilung.  

Fazit

Heilung von Entwicklungstrauma ist möglich und kann zu nennenswerten Verbesserungen der Lebensqualität führen.

Egal wie die persönliche Geschichte auch war und wie groß der Schmerz auch ist: es gibt immer diese natürliche Tendenz allen Lebens und jedes Wesens hin zum Licht (Zitat aus einem der Vorträge von Dr. Laurence Heller).

Es ist die Aufgabe des Therapeuten, gemeinsam mit dem Klienten die Fenster zur natürlichen Bestrebung des Menschen zu mehr Lebensenergie, Selbstentfaltung, aber auch Kontaktfähigkeit zu entdecken.   

Die von Dr. Heller entwickelte Arbeit ist zwar ursprünglich als therapeutisches Verfahren konzipiert, lohnt sich aber aus Erfahrungen des Autors dieses Artikels in jedem Fall auch für nicht therapeutische Anwendungsgebiete, z.B. zur Steigerung der persönlichen Stressresistenz, der Durchsetzungsfähigkeit und vieler anderer Ausprägungen.

Literaturhinweise

  • Laurence Heller/Aline LaPierre
    Entwicklungstrauma heilen/Alte Überlebensstrategien lösen, Selbstregulation und Beziehungsfähigkeit stärken
    Vrlg. Kösel/ISBN 978-3-466-30922-1
  • Youtube-Beitrag von Dami Charf: Traumatherapie mit frühen Verletzungen Teil 1

Über den Autor dieses Artikels

Jürgen Heinrich, Jahrgang 1954, ist seit fast 30 Jahren tätig als Therapeut, Coach und Seminarleiter. Nach Ausbildungen z. B. zum systemischen Supervisor, Meditationslehrer, Gestalttherapeuten erfolgte eine intensive Beschäftigung und Ausbildung in Traumatherapie und der Arbeit mit Entwicklungstrauma. Jürgen Heinrich ist mittlerweile im Ausbilder-Team von Laurence Heller in Lehrassistenz tätig. 

Wie arbeitet Gestalttherapie?

Der Gestalttherapeut arbeitet mit dem Dialog zwischen unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen, wie zum Beispiel dem „inneren Kind“ und dem „inneren Kritiker“. Ziel ist es, innere Konflikte zu bearbeiten und die innere Harmonie herzustellen, um in die eigene Kraft zu kommen und die Ausstrahlung als „runde“ und in sich ruhende Persönlichkeit zu erlangen.

In der sogenannten Stuhlarbeit geht es zum Beispiel darum, innere Spannungsfelder aufzulösen, Entscheidungen zu treffen oder Botschaften des Körpers zu ergründen. Aber es geht auch darum, durch den Perspektivenwechsel Klärung zu ermöglichen und Konflikte mit anderen Menschen zu lösen. Weitere Methoden sind die Arbeit mit Träumen, mit der eigenen Lebensbiographie als Kraftquelle, mit Signalen, Botschaften und Reaktionen des Körpers sowie gegebenenfalls mit deren Veränderung.

Die Gestalttherapie nutzt kreative Methoden wie Malen und sie lässt uns unsere männlichen und weiblichen Anteile erkennen und in Harmonie bringen. Auch dem Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen kommt eine große Bedeutung zu. Ebenso entscheidend ist es, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu lernen, anderen gegenüber Grenzen zu setzen. Außerdem geht es um Anerkennen und Integrieren von nicht geliebten eigenen Persönlichkeitsanteilen.

Vor allem aber arbeitet die Gestalttherapie mit Achtsamkeit und Präsenz im Gespräch zwischen Klient und Therapeut.

Oft sind es die kleinen Beobachtungen, die der Therapeut macht, auf die es ankommt. Allein dieses Bewusstmachen von unbewusst gemachten Aussagen oder Gesten kann bereits zur Auflösung führen. Kleine bewusst herbeigeführte Veränderungen in einer Betonung, in der Stimme oder der Gestik des Klienten können manchmal ausreichen, um einen Knoten zu lösen oder etwas in Fluss zu bringen. Das macht für mich nach wie vor das Faszinierende, den „Zauber“ der Gestalttherapie aus. Gestalttherapie lässt etwas bewusst werden und bereits dadurch tritt Veränderung ein. Man könnte sagen: Gestalttherapie arbeitet nicht mit spektakulären Methoden sondern mit Achtsamkeit im Hier und Jetzt. Oft sind es eben die kleinen Veränderungen, die eine große Wirkung haben.

Die Gestalttherapie geht davon aus, dass jeder Mensch OK ist und alle erforderlichen Ressourcen in sich trägt. Der Therapeut unterstützt den Klienten dabei, selber neue Wege zu finden. Er gibt keine Patentrezepte und hat nicht den Anspruch, es besser zu wissen oder immer die richtige Lösung zu haben. Und er hat keine Theorien im Hinterkopf, in die er den Klienten einsortiert. Der Therapeut interpretiert nicht seine Beobachtung, sondern überlässt es dem Klienten, der Beobachtung eine Bedeutung zu geben.

Im Vordergrund stehen die Lebendigkeit in der therapeutischen Arbeit, die Empathie gegenüber dem Klienten und die Akzeptanz des Klienten so wie er ist. Entscheidend für die Gestalttherapie ist eine wertschätzende Beziehung zwischen Klient und Therapeut und dass der Therapeut dem Klienten nicht als überlegener Experte begegnet, sondern ihn partnerschaftlich begleitet. Kein urteilen, kein beurteilen, kein Denken in Gut und Schlecht, richtig und falsch. Es ist OK, nicht perfekt zu sein. Oder: du bist OK so wie du jetzt bist.

Text © 2011 Jürgen Heinrich

Was ist Gestalttherapie?

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Die Gestalttherapie zählt zu den wichtigsten und einflussreichsten Therapieverfahren der humanistischen Psychologie. Sie wurde in den sechziger Jahren von Fritz und Lore Pearls und Paul Goodman entwickelt und findet Einsatz in Einzel-, Gruppen-, Paar- und Familientherapie.
Derzeit gewinnt die Gestalttherapie sogar noch an Bedeutung, da die für sie so charakteristischen Begriffe wie Achtsamkeit und Akzeptanz die moderne Psychotherapie enorm beeinflussen. Beide Begriffe, die ursprünglich aus der Meditation stammen, sind die Grundlagen in der gestalttherapeutischen Arbeit.

Die Gestalttherapie richtet sich darauf, inneres Wachstum zu fördern und die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Durch die Befreiung von bremsenden oder blockierenden Verhaltensmustern kann der Klient aus eigener Kraft Probleme lösen, neue Verhaltensweisen werden ermöglicht und Potentiale aktiviert.

Diese innere Befreiung macht aus meiner Erfahrung eine wesentliche Kraft der Gestalttherapie aus.

Hierzu versuchen wir in den Sitzungen, alte Konditionierungen oder sogenannte „Einflüsterungen“ der Vergangenheit („du kannst nicht, du sollst, du musst, du bist …“) zu erkennen und aufzubrechen. Ziel der Gestalttherapie ist es, sich mehr und mehr von den alten bremsenden Konditionierungen zu befreien und die „Einflüsterungen“ anderer loszuwerden, sich selber und die eigenen Bedürfnisse zu spüren, sowie authentisch zu sein und die eigene Persönlichkeit und deren Möglichkeiten zu entfalten.

Die Gestalttherapie versteht sich sowohl als therapeutisches Verfahren, mit dem aktuelle Probleme, Störungen und Konflikte bearbeitet werden, als auch als Weg zur Persönlichkeitsentwicklung. Sie möchte mehr „Lebendigkeit“ und Freude ins Leben bringen und den Klienten seine verborgenen Fähigkeiten und Stärken entdecken lassen. Die Gestalttherapie ist somit auch ein Angebot für Menschen, die einfach nur den Wunsch nach Veränderung, Entwicklung und Neubeginn haben. Hierin unterscheidet sie sich von anderen Therapiekonzepten.

Durch die Befreiung von Blockaden und von alten Einflüsterungen und Einschränkungen will die Gestalttherapie den Neubeginn ermöglichen, das Lebensskript veränderbar werden lassen. Hierdurch kann sich die Lebensfreude wieder entfalten. Natürlich zählt auch die Lösung aktueller Probleme zu den Anliegen der Gestalttherapie.
Dabei legt die Gestalttherapie großen Wert auf authentisches Wachstum: es geht nicht darum, so zu werden, wie man sein sollte, sondern darum, die bereits vorhandenen aber verborgenen Stärken der eigenen Persönlichkeit zu entfalten.

Im Mittelpunkt der Gestalttherapie steht nicht das „Stöbern“ in der Vergangenheit und die Frage, wann und wodurch ein Problem oder eine Störung entstanden ist. Der Schwerpunkt liegt vielmehr im Auffinden von blockierenden Mustern und von helfenden persönlichen Ressourcen in der Gegenwart.

Allerdings ist der Blick zurück in die Vergangenheit und in die Kindheit manchmal hilfreich, um unser jetziges Verhalten zu verstehen. „Unerledigte“ Situationen von früher, die uns heute immer wieder begegnen und unser Handeln unbewusst bestimmen, werden in der Therapie aktiviert, steigen an die Oberfläche und werden dem Bewusstsein wieder zugänglich. Durch das Abschließen dieser alten Themen, die im Heute immer wieder störend einwirken, entstehen neue authentische Handlungsmöglichkeiten.

Bei der Bearbeitung von störenden Verhaltensweisen und Eigenschaften, geht es in der Gestalttherapie nicht darum, das Problemverhalten oder die störende Eigenschaft des Klienten beseitigen zu wollen. Vielmehr wird das Muster erkannt und nach Möglichkeiten gesucht, dass der Klient diese Eigenschaft oder den Persönlichkeitsanteil annimmt. Selbstannahme ist vielleicht der größte Reichtum, den wir erreichen können: Den Frieden mit sich selbst machen. Anerkennen und integrieren statt loswerden. Und vielleicht geschieht Veränderung dann ohne große Anstrengung. Oder man behält den „störenden“ Teil, aber mit einem anderen Selbstbewusstsein. Die Kunst liegt darin, sich zu akzeptieren wie man ist und gleichzeitig Veränderung zuzulassen.

In der Gestalttherapie geht es auch um Selbstachtung und darum zu lernen, sich selbst zu vertrauen, sich auf seine Intuition zu verlassen und sich in seinen Bedürfnissen zu erkennen.
Gestalttherapie versteht sich ebenso als praktische Lebensphilosophie. Auch hierin unterscheidet sie sich von anderen Therapiekonzepten. Sie bietet einen Weg, mit mehr Intensität und Sinnhaftigkeit sein Leben bewusst zu gestalten.
Außerdem bietet Gestalttherapie die Möglichkeit, sich auf das Abenteuer, sich selbst neu kennenlernen und sich selbst neu zu entdecken, einzulassen.

Wie arbeitet die Gestalttherapie?

Text © 2011 Jürgen Heinrich